Leseprobe
Traminer Spätlese
An diesem Tag überschlugen sich die Ereignisse. Zehn Uhr, pünktlich, man hätte die Uhr danach stellen können, keuchte der örtliche Postbote mit seinem klapprigen, gelben Dienstfahrrad die Anhöhe zum Weingut Conradi hinauf, er schnaufte, der Schweiß bildete kleine Perlentröpfchen auf der Stirn. Er hatte ein Einschreiben auszuliefern, auf das Berthold Conradi und die schöne Marie schon einige Zeit gewartet hatten. Im Umschlag einer bekannten Lebensversicherung lag ein Verrechnungsscheck über dreihunderttausend Euro, ausgestellt auf Maries Namen, deren Mann Gunnar Conradi seit einem Jahr als verschollen galt. Er war vor einigen Wochen offiziell für tot erklärt worden, und beide, seine Ehefrau Marie und sein Bruder Berthold wussten sehr wohl, dass das durchaus seine Richtigkeit hatte.
Schließlich hatten beide gemeinsam dafür gesorgt, dass sich Gunnar Conradi, oder besser gesagt, dass sich das, was von ihm noch übrig war, langsam aber stetig in einem 600-Literfass aus bulgarischem Eichenholz mit Resten ganz verschiedener Weine in seine organischen Grundbestandteile auflöste.
Berthold und Marie staunten immer wieder, wie leicht es doch gewesen war. Ein schneller Schnitt mit dem Rebmesser, das Blut am Boden war zwischen den zertretenen Rotweintrauben kaum ins Auge gefallen, und da hatte er dann gelegen, direkt unter dem Balken mit der eingeschnittenen Offenbarung des Johannes aus der biblischen Apokalypse: Schick dein scharfes Winzermesser aus und ernte die Trauben vom Weinstock der Erde. Seine Beeren sind reif geworden.
Marie war auf die Idee mit dem Weinfass gekommen. Marie, die schon kurz nach ihrer Eheschließung mit Gunnar Conradi bemerkt hatte, dass sie wohl den falschen der zwei so unterschiedlichen Conradi-Brüder geehelicht hatte, nämlich den widerlichen Tyrannen, den ekelhaften Geizkragen, den impotenten Trauerkloß und Säufer, statt den liebenswerten, liebeshungrigen Berthold. Marie, die sich heimlich in das Bett des Schwagers schlich.
Als Gunnar, seltsamerweise mit einem Rosenstrauß in der Hand, unerwartet in den Weinkeller getreten war und dort seinen Bruder und seine Frau in eindeutiger Umarmung vorgefunden hatte, da war plötzlich alles ganz schnell gegangen. Ein kurzes Brüllen, ein schnelles Handgemenge, der flotte Schnitt mit dem Winzermesser. Ab mit dem Kerl ins Fass, nebst Strohhut und Rosenstrauß ...